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Michael Mierach, Lothar Stolte

Leben und Werk des Malers Carlo Kriete

„Von nun an gehört mein Leben der Kunst“: Ein starker Ausspruch für einen Zehnjährigen! Doch so beschrieb der Maler Carlo Kriete rückblickend die Wirkung, die der erste Kontakt mit der Malerei auf ihn hatte. Aus dieser Begeisterung entstand ein gewaltiges Werk von über 700 Ölbildern, mehr als 4000 Blättern aus Zeichnungen, Druckgrafiken und Holzschnitten sowie eine Fülle an Prosatexten und lyrischen Schriften.

Die unbewusste Neugier auf Erkenntnis schon bei diesem jungen Menschen trieb ihn früh dazu, die gemalte Welt der alten Meister Dürer und Rembrandt und der damals noch modernen Expressionisten Nolde, Munch und Barlach zu studieren und zu durchdringen.

Als kränkelndes Kind mit immer wieder aufflackernder Tbc wuchs Carlo Kriete, geboren am 2. Juni 1924, in Hamburg-Barmbek auf. Angeregt von den Malern Werner Thiele – Krietes 13 Jahre älterer Vetter –, Hans Burmeister und Peter Lüders wandte sich Kriete schon 1940 der Ölmalerei zu.

Kriegs- und Nachkriegsjahre

1942 wurde der 18-jährige zur Wehrmacht eingezogen. Während der kurzen Ausbildung traf ihn die Nachricht vom Selbstmord seiner Mutter. Nur wenig später wurde er als Frontsoldat in der Kesselschlacht bei Newel (Russland) eingesetzt. Sein Aufbegehren gegen die Schikanen an der russischen Bevölkerung durch einige Angehörige der Wehrmacht und gegen die Willkür der Vorgesetzten brachten ihn immer wieder zusätzlich in Todesgefahr. Als Kriete im September 1943 auf Heimaturlaub fahren konnte stand er vor den Trümmern der elterlichen Wohnung. Die Elendsbilder von Hamburg schlossen den Tod der Großmutter und den Verlust seines bisher geschaffenen Frühwerkes mit ein. In einem zweiten Fronteinsatz wurde Kriete in die blutige Schlacht bei Narva (heute Estland) kommandiert. Schwer verwundet kehrte er 1944 nach Hamburg zurück, wo er in der Wohnung seines Vetters Werner Thiele Unterschlupf fand.


Die Erlebnisse während des Krieges sollten später zu einem der zentralen Motive in Krietes Werk werden und ihn Bilder schaffen lassen, die das Leid der Menschen und die Not der Zerstörung späteren Generationen überliefern.

Beim Arbeitsamt stellte er einen Antrag auf Umschulung zum Volksbibliothekar. Doch durch die Vermittlung von Marie Louise Freiin von Hodenberg, der Äbtissin des Klosters Lüne, die sich sehr um den Begabten kümmerte, konnte er seine Malstudien zunächst im Kloster fortsetzen. In diesem Jahr lernte er auch Hans Henny Jahnn kennen. Der junge Kriete war fasziniert: Jahnn hatte bereits sieben eigenwillige und umstrittene Werke geschrieben und war für ihn ein Genie in der Vielfalt seiner Begabungen. Jahnn war Dichter, aktiver Kriegsgegner, Orgelbauer, Gründer der musikalischen „Glaubensgemeinde Ugrino“, Mitbegründer der Freien Akademie der Künste in Hamburg, Verleger, Bauer und Pferdezüchter. Obwohl Jahnns Schriften ein rein biologisch begründetes Bild des Menschen darstellen, war Carlo Kriete von der Vitalität Jahnns tief beeindruckt.

Eine Begegnung die Krietes Leben veränderte

Kurz darauf kam es zur Begegnung mit Heinrich Steinhagen, dem „Golem von Hamburg“ und Begründer der „Hamburgischen Sezession“, der Kriete als seinen einzigen Privatschüler annahm. In seinem Lehrer fand Kriete einen wesensverwandten Menschen, der die Ideale hochhielt und mit seinem „trutz allem!“ etwaigen Schwierigkeiten entgegentrat. Das von Steinhagen geschaffene Gesamtkunstwerk, das „Schloss von Rahlstedt“, wurde nun Krietes geistige Heimstatt. Das prägte ihn.

Durch Empfehlung Steinhagens und anderer Sezessionsmitglieder wurde Kriete 1945 von Professor Ahlers-Hestermann an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg aufgenommen, wo er die Klasse von Willem Grimm und Professor Tietze besuchte. In diese Zeit fiel auch die Bekanntschaft mit dem Hamburger Schriftsteller und Herausgeber der „Roten Erde“, Karl Lorenz sowie den Malern Walter Oldenburg und Emil Kritzky. Vor allem mit letzterem verband Kriete bis zu dessen Tod eine enge Freundschaft.

Schon 1947 begann Kriete seine Werke in Hamburg und Lübeck auszustellen. Durch den Erfolg ermutigt, brach er sein Studium an der Kunsthochschule 1948 ab. Seine Begründung: „Ich hielt es nicht lange in der Kunstverderberanstalt aus.“

An Besuchern im Steinhagenhaus war kein Mangel: Karl Lorenz, Paulfried Martens, die Maler Adolf Wriggers, Heinrich Jünger und andere kamen gerne. Und 1946 kam Emil Nolde, mit dem Carlo Kriete später auch im Briefwechsel stand.

Die Hamburger Kunsthalle wird aufmerksam

Am 19. Juli 1948 starb Steinhagen an Lungenkrebs. Carlo Kriete beschrieb später: „Das posthume Leben der Bilder und Figuren begann. Nach Steinhagens ewiger Abreise bauten wir in der großen Halle eine Gedächtnisaustellung auf. Ich brachte ein Schild in gothischer Schrift an der Vorderfront des Hauses an. Die Ausstellung war einzig schön. Es kamen nur wenig Leute, quasi die alte Garde. Jochen (gemeint ist Jochen Schweppe, Komponist und Musiker) spielte auf dem Harmonium. Ich las Hebbels Requiem und hielt eine Rede. Kurz darauf erschien Wolf Stubbe, der große Graphikkenner von der Hamburger Kunsthalle. Er war erstaunt, ja begeistert. Er dachte an eine Steinhagengesellschaft.“

Zur Rahlstedter 700-Jahr-Feier 1948 ermöglichte Dr. Wolf Stubbe, der damalige Leiter des Kupferstichkabinetts der Hamburger Kunsthalle, dem jungen Maler Carlo Kriete an der großen öffentlichen Ausstellung teilzunehmen, hier nun zum ersten Mal gemeinsam mit den Werken seines Meisters Steinhagen.

1951 war Kriete mit fünf Werken an der „Großen Deutschen Kunstausstellung“ in Berlin vertreten. Im Jahre 1952 zog Kriete in das Steinhagenhaus ein. Mittlerweile war das Haus zur Wohn- und Arbeitsstätte einer Reihe von Künstlern und Intellektuellen geworden: Neben der Witwe Steinhagen mit den erwachsenen Kindern Angelo und Lore wohnten hier sein Freund der Komponist und Pianist Joachim Schweppe, der Maler Franz Nespethal, der Töpfer Andree, der Graphiker Rüdiger Schulz, der Bildhauer Werner Michaelis, die Lehrerin Hertha Wagner mit ihren drei Kindern und der Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Heinz Stolte mit Frau Ilse und den zwei Söhnen Heinrich und Lothar (Anm.: siehe auch Text „Leben im Steinhagenhaus“ auf dieser Website, welcher bald folgt).

Um die materielle Not zu lindern, arbeitete Kriete als Fensterputzer. Es folgten Jahre des Suchens und Tastens, und er nahm sich die alten Meister wieder vor. Tintoretto, Tizian, Velasquez und „die Franzosen“. Die Faszination der Bücherwelten der Kunst zog ihn hinaus. Studienreisen nach Holland und Belgien wagte er mit fast nichts in der Tasche, aber dem hungrigen Blick auf die Lehrmeister seiner eigenen Existenz. 1954 gelang ihm ein dreimonatiger Aufenthalt im Pariser Qartier Latin mit einem „Totalstudium des Louvre“.

Ein Kunstschatz wird vernichtet

Der Kampf um das Steinhagenhaus begann. Carlo Kriete unterstützte Maria Steinhagen bei der Verteidigung des Gesamtkunstwerkes. Ohne Erfolg. So schrieb etwa der Denkmalspfleger Prof. Dr. Grundmann an die Kulturbehörde: „Man kann das Haus eines Künstlers zu seiner Erinnerung nur dann unter Einsatz von öffentlichen Geldern erhalten, wenn es sich um Fälle wie zum Beispiel Nolde oder Richard Dehmel handelt.“ Eine fatale Fehleinschätzung wie sich später herausstellen sollte. 1958 musste Kriete schließlich doch seine künstlerische Heimstatt verlassen. Trotz aller Bemühungen wurde das Kunstwerk 1963 zugunsten eines Neubaus der Wohnungsbaugesellschaft Neuen Heimat abgerissen.

Heute erinnert eine Gedenktafel und der nach Steinhagen benannte Steinhagenweg an den großen Künstler – sowie an die leichtfertig dahingegebene und unwiederbringlich verlorene bedeutende Kunststätte.

Für Kriete war der Abriss auch eine persönliche Tragödie. Später sagte er: „1963 wurde alles zerstreut, auseinandergerissen, zum großen Teil vernichtet. Dem Haus, der nun leer stehenden Ruine, stattete ich noch einmal einen Besuch ab. Was ich fand waren Zeichnungen und Drucke, zerfetzt, beschissen, im wahrsten Sinne des Wortes bekackt. Hans Henny Jahnns Satz mag hier gelten. ,Es ist wie es ist, und es ist fürchterlich!´ Das Haus wurde abgerissen. Das war der zweite Tod Steinhagens. Damit war das zentrale Thema seines Lebens gegenstandslos geworden, verflüchtigt zu Erinnerung. Gewiss, es blieb als Schicksal aber auch die Gleichgültigkeit, die Schuld aller, die davon wussten. Ich jedenfalls fühle es noch heute wie eine Schuld, dass ich ohnmächtig tatenlos nichts daran ändern noch eingreifen konnte. Die großen Freiplastiken eines mit letzter Kraft um seinen Ausdruck ringenden Menschen – Bulldozer walzten sie in einen Teich.“

Malerei als dramatischer Ausdruck

Carlo Kriete fand in der Bargteheider Straße in Hamburg-Rahlstedt einen Laubenschuppen, den er sich als Wohnatelier einrichtete. Seine finanzielle Stituation zwang ihn die alte Methode aus dem Steinhagenhaus wiederaufzunehmen, auch auf Rupfen aus alten Kartoffelsäcken zu malen. Nach einer Ausstellung 1958 im Volksheim Marschnerstraße bescheinigte ihm ein Kritiker: „Reizvoll bei fast allen Ölbildern ist die Struktur des groben Rupfens, auf dem er seine Bilder malt.“ Die „Andere Zeitung“ betrachtete Krietes Werke anlässlich einer Alleinausstellung in diesen Räumen zwei Jahre später im November 1960 so: „Er würgt an den Bildern, er rackert sich ab, beisst sich in die Leinwand – wenn er es schafft, entstehen schwere, belastende Bilder wie die vier Kriegsbilder. Dunkle Menschengruppe, starr, grau, krank, eine hingebrochene Leiche auf dem zerfetzten schmutzigen Boden, eine brennende Kirche in der zerstörten russischen Landschaft. Banstig, schwielig, grob gemalt. Kriete engt den Bildraum ein, drängt die Figuren zusammen, alles Blut scheint den Farben entzogen. Das Bild wird zur Qual, zum Würgemal, zum Brachland des Krieges. Ohne Geschrei geschieht das, dieses Entsetzen ist stumm.“

„Dieser Mann weiß etwas mitzuteilen“

Kriete arbeitete weiter. Eine Wanderausstellung religiöser Grafik in Schweden und weitere Einzelausstellungen im BP-Clubheim und der Hamburger Kunsthalle folgten 1960. Michelangelo und Leonardo trieben ihn dann nach Florenz. Bei einem zweiten Studienaufenthalt 1962 in Florenz bildete sich ein Forum zur Schau seiner kleineren Arbeiten (Zeichnungen, Tusche, Kohle).

Nachdem die feuchten Hamburger Jahre 1958/59 seine Hütte an der B 75 durchweicht hatten, fand er im Souterrain eines Gründerzeithauses ein Kelleratelier mit Schlafnische. Eine Kunsthöhle die zu Dauerausstellungen einlud. Walter Gättke berichtete darüber 1963 in den „Harburger Nachrichten und Anzeigen“: „Man hat alle Ursache, sich sowohl aufgrund seiner Begabung als auch eines fast ungestümen Ernstes den Namen Carlo Kriete zu merken.“ Im selben Jahr heiratete er die Pianistin und spätere Professorin Brigitte Ahringsmann und wohnte mit ihr in einem Haus in Hamburg-Poppenbüttel.

Eine Zweimonatsausstellung in der Lübecker Stadthalle brachte ihm weitreichenden Erfolg. Im September 1965 kommentierten die Lübecker Nachrichten: „1945, im Jahre Null also, malt Carlo Kriete die Turmstümpfe der Petrikirche und der Marienkirche zu Lübeck. Jahrgang 1924, gehört er also der Generation an, die der eigentliche Verlierer des Krieges war. Und so hat dieser Künstler im Neubeginn offenbar nicht seine Aufgabe darin gesehen seine Formensprache zu finden, die womöglich auch noch origenell sein müsste. Dieser Mann weiß etwas mitzuteilen. Er wird von Visionen geschüttelt und von Todesahnungen heimgesucht und bringt das, was er meint, nicht eben fein und zart, sondern laut und farbenstark auf die Leinwand. Zwanzig Jahre danach aber scheint sich auch Carlo Kriete heute ein wenig mehr von seinem aufgewühlten Innenleben hinweg und der Umwelt unseres modernen Zeitalters zuzuwenden. Ein bemerkenswertes großes Werk ist ein hervorragendes Beispiel dafür: Die Malweise ist leichter geworden, obwohl der Ernst und die Symbolkraft erhalten bleibt. Das Bild, ,Emmaus´ betitelt, zeigt die mahnende Christusfigur mitten in der Reaktoranlage eines Atomkraftwerkes. Das Atom-Ei schimmert im Hintergrund. Die Jünger sind halb Science-Fiction-Figur, halb weiß bekittelte Wissenschaftler.“

Zwischen intensiven Malphasen erkundete er immer wieder Land und Leute mit dem Skizzenbuch an der Nordsee, in den Ostalpen und in der Schweiz.

Einzelgänger im Kunstbetrieb

Ausstellungen holten 1969 seine Bilder nach Bochum, Querenburg und ins Kunsthaus Hamburg. Anlässlich der „Herbstlichen Festtage in Rahlstedt" mit Konzerten und Lesungen – unter anderem mit dem damaligen Geheimtipp Walter Kempowski – wurde für die Maler Carlo Kriete und Werner Thiele eine Ausstellung ausgerichtet. Über Krietes Bilder schrieb ein Rezensent in der „Kleinen Festschrift": „Dies brüllt uns an! Und wenn man will, mag man in diesem Zeichen lesen, was Kunst überhaupt und was die Kunst Carlo Krietes im Besonderen zu bewirken strebt." Er bescheinigte Krietes Bildern eine „technische Brillanz der Darstellung", was zu „einer Faszination des in sich Gültigen" führt.

Bereits 1960 hatte Hellmut Bellke, Kritiker vom „Hamburger Echo", über Carlo Kriete geurteilt: „Diese umfassende Künstlerpersönlichkeit ist jedenfalls ein bedeutender Einzelgänger, dessen künstlerische Leistung bis heute nicht recht gesehen und verstanden ist." Wie recht er hatte. Schrieb doch der Kulturbeauftragte der Freien und Hansestadt Hamburg Martin Peters an Kriete am 29. Oktober 1969: „Ihren Beitrag zur Ausstellung im Kunsthaus habe ich gesehen. Insgesamt, das wissen Sie, fällt mir der Zugang schwer zu Ihren expressiven Formen und zu diesem Gestus pathetischer Weltbeschwörung." Dennoch beteiligte sich die Kulturbehörde an der Finanzierung und Senator Kramer eröffnete die „Herbstlichen Festtage in Rahlstedt."

Neben ersten Ausstellungen seiner Bilder im mittlerweile eigenen Atelier in Hamburg-Poppenbüttel konnte Kriete in einer Hanns-Henny-Jahnn-Gedächtnisausstellung in der Hamburger Staatsbibliothek 1973 zeigen, wie er den Dichter gesehen hatte.

Doch Kriete erfüllte nich nur die eigenen Anforderungen. In akribischer Kleinarbeit forschte er den Werken Steinhagens nach. 1974 zu dessen Nachlassverwalter berufen, versuchte er in einem Sammlungspool mit den Erben, den Ausverkauf des Werkes in die USA und anderswo zu verhindern. Kriete gelang es, 1975 in der Hamburger Kunsthalle eine große Steinhagen-Gedächtnisausstellung zu realisieren, die viel Aufsehen erregte, und im Jahre darauf in Rahlstedt in der „Café-Galerie Stamp" eine kleinere.

Regelmäßige Bilderschauen konnte man seit 1970 nun im Kriete-Atelier-Bau in Poppenbüttel ansehen, und wer neugierige Augen hatte, konnte in diesen Etappen das Neue in seinem künstlerischen Schaffen wahrnehmen.

Im Hamburger Kunsthaus bot sich ihm 1969 eine Möglichkeit, innerhalb einer „juryfreien Gruppe" von sieben Hamburger Malern auszustellen. Obwohl sehr verschieden, verfolgte sie doch als kleine Gegenrevolution eine gemeinsame Tendenz: Sich gegen den Kunstbetrieb der Avantgarde zur Wehr setzen und ihre Spielarten ebensowenig zu hofieren wie sich einer modischen Manier zu unterwerfen. Auch deshalb etikettierte sich die Gruppe kurzzeitig als „7mal Outside".

Eine andere Art der Gruppendynamik erlebte Kriete im „Priessecker Kreis". „Damals, 1958/59, war dieser kleine Priessecker Kreis ein rares Beispiel für Toleranz. Und es behagte mir, einem Kreis anzugehören und keinem Verein", so Kriete 1981 anlässlich der „32. Priessecker Woche" in Hermannsburg.

Er fühlte sich wohl bei seinen Malerfreunden Emil Kritzky und dem Begründer des Kreises, Walter Oldenburg. Diese Künstlertreffen waren entspannter Austausch unter Fachleuten. Man musste nichts verteidigen, durfte aber erklären. Die Künstler waren die Woche über anwesend, zum Gespräch bereit, mit jedem über alles. Ein Künstlerparadies in der Göhrde.

Malender Sozialkritiker um jeden Preis

Wer Carlo Kriete kannte, wusste, was er sagte, war auch so gemeint. Er war kein Wortschmuser der Gefälligkeit, für manche war der Umgang mit ihm nicht immer einfach. Natürlich war er auch Egoist. Seiner Malerei hatte sich alles unterzuordnen. Auch seine physischen und psychischen Kräfte. Er selbst war es dann, der das Massekabel zog und den Kurzschluss durchleiden musste. Und mit ihm auch seine nächste Umgebung.

Andererseits brachte er den „mühevoll Beladenen" seine Güte entgegen. Und er malte sie, die ins Dasein geworfenen Menschen, in ihrem Erdulden, den Lebenskampf auszuhalten. Er malte nicht: So liebt euch doch! Sondern er zeigte die Erscheinungsbilder der Nichtliebe. Die Schicksale der anderen provozierten seine inneren Visionen. Carlo Kriete war ein Weltbeobachter als malender Sozialkritiker.

Als ihm einmal ein Kritiker vorwarf nur Epigone des Expressionismus zu sein, antwortete er: „Meine Bilder zähle ich nicht zum sogenannten Expressionismus, meine Bilder sind expressiv!" Und das im doppelten Sinne: Zum einen sind sie ausdrucksstark, und zum anderen zeigt sich dieser „Krietesche Expressionismus" ganz in der geistigen Tradition des „Alten Expressionismus", der nämlich der Welt ein neues Ethos geben wollte. Diese leidenschaftliche Blickrichtung mit ihren unkonventionellen, aber nicht abstrakten Farbformen mag den konservativen Blick zunächst verstören und den Avantgardefreund verbeißen. Doch Krietes existenzielle Ergriffenheit, die seinen Bildern eine unausweichliche Kraft verleiht, konnte sich nur in diesen nicht genormten Ausdrucksformen Bahn brechen. Expressionismus im weiteren Sinne also ist bei Carlo Kriete Ausdruckskunst als zeitlose Verhaltensweise.

Aus dem offiziellen „Kunstbetrieb", wie er die Öffentlichkeitswirkung der Malerszene und der Galerien kritisch nannte, zog er sich nach und nach zurück. Er spürte offenbar, dass der Zeitgeist durch den Geschmack der Zeit zu einem Ungeist wurde, in dem kein Raum für ihn war. Er war nicht „en vogue". Er konnte und wollte nicht bedienen, dienen ja, um durch die Malerei Verständnis zu wecken zur Bereitschaft, die menschlichen Lebensweisen zu verändern. Aber seine Themen waren nicht gefragt. Sie schienen gleichzeitig entweder zu spät oder zu früh. Zu früh auch deshalb, weil es der Gesellschaft nie passt, die zur Zeit gerade richtige Erkenntnis aus ihrem Tun zu ziehen und es ihr eben deshalb nicht gelingt, diese richtige Erkenntnis überhaupt zu gewinnen. Eine Gesellschaft sieht nicht gerne in den Spiegel und wartet nicht gern auf den „Rufer aus der Wüste". Denn „wüst und sinnenleer" zeigte Kriete in seinen Bildern so manche Gesellschaftssituation. Und so fügte er sich in die Garde der nur geduldeten Moralisten ein, die es gewohnt sind, mit ihrem geschliffenen Sprachrohr für die Verstärkung ihrer Stimme zu kämpfen, ohne aber in würdigem Maße bemerkt zu werden. Da er jedoch auch keinem Modestil entsprach, versprach er auch keine Optionen auf Handelswert. Aber wie lange dauerte es, bis ein Otto Dix einen Marktwert hatte? Waren seine Bilder deshalb schlechter, als diese nur wenigen Menschen bekannt waren?

Former einer radikalen Lebensleistung

Der „Verein zur Förderung kultureller Aktivitäten rund um die Kreuzkirche Wandsbek e.V." bot Carlo Kriete im November 1986 eine „Kleine Retrospektive" in deren Gemeindehaus an. Diese kleine Retro zeigte Großes: Von den frühen Nachkriegsjahren bis zur unmittelbaren Gegenwart bot dieses Forum „seine Themen" in einer Auswahl der sozialkritischen, der religiösen und der philosophischen Bilder. Evelyn Preuss vom „Hamburger Abendblatt" reflektierte am 27.11.1986 das Gesehene: „Die Motive für schöpferische Arbeit dürften so unterschiedlich sein wie die Menschen selbst, die sich ihr unterziehen ... Da sind die Leidenden, für die „Der verwundete Soldat" und „Der schreiende Krieger" – beide entstanden 1949 – repräsentativ sind. Auf der anderen Seite stehen die starken Persönlichkeiten wie Jesus und Gandhi, die dem Übel dieser Welt mit dem hohen Ethos entgegentreten, das sich aus metaphysischer Kraft speist. Gerade Krietes ,Gandhi´, eines der neueren und außerordentlich eindrucksvollen Werke dieser Ausstellung, versammelt in sich einen Willen, der über die kreatürlichen Schwächen triumphiert. Sein unscheinbarer Körper wird dominiert von dem Kopf mit den dicken Brillengläsern, hinter denen die Augen kaum zu erkennen sind. Die Analogie zu dem blinden Seher liegt nahe, der sich vom Tand dieser Welt nicht ablenken lässt, sondern aus dem Inneren lebt."

Man kann die Kunst Carlo Krietes ablehnen oder von ihr ergriffen sein, vielleicht sich an sie herantasten, aber als Former seiner radikalen Lebensleistung gelang es Carlo Kriete, die Bedeutung eines großen Hamburger Malers zu erlangen.

Nach schwerer Krankheit und langer Leidenszeit starb Carlo Kriete in den frühen Morgenstunden am 24. Dezember 1989. Er ruht auf dem Friedhof Alt-Rahlstedt, gemeinsam mit seiner 2020 verstorbenen Frau Brigitte – und in unmittelbarer Nähe seines Freundes Joachim Schweppe.

Weitere wichtige Begegnungen:

Peter Lüders, Konrad Hauptmann, Ivo Hauptmann, Uli Hauptmann, Friedrich Ahlers-Hestermann, Manfred Hausmann, Emanuel Zimmermann, Emil Nolde, Kurt Pörschke, Erich Hartmann, Hermann Schütte, Willi Colberg, Willi Dahncke, Uli Lorenz, Dieter Kressel, Harald Duve, Otto Ruths, Walter Kayser, Paulfried Martens, Friedrich (Fiete) Dettmann, Gottfried Sello, Prof. Eliza Hansen, Justus Frantz, Christoph Eschenbach, Signe Jahnn-Trede (Tochter Hanns Henny Jahnns), Horst Janssen, Hanno Edelmann, Jens Cords, Volker Detlef Heydorn, Alfred Mahlau, Adolf Wriggers, Peter Luksch.

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